Dr. Adele Gerdes, Bielefeld

Rezension


Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange?

Blessing, München 2010, gebunden, 384 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-8966-7428-9


[zuerst erschienen auf: (Verband freier Lektorinnen und Lektoren), 6/2011]


„Ich vermisste mein altes Gehirn ...“ 

Es ist ein Schlüsselthema, das uns in den kommenden Jahren noch intensiv beschäftigen wird. Die mit den aktuellen informationstechnologischen Entwicklungen einhergehenden Wandlungen und Umbrüche sind hochinteressant und sicher auch brisant. Wie „Internet & Co.“ unsere Erfahrungswirklichkeit – und uns selbst – zu ändern vermögen, lässt sich bislang wohl allenfalls erahnen. Die Publikationen zum Thema mehren sich; Stichwörter für aktuell diskutierte Konsequenzen auf individuellen und sozialen Ebenen sind zum Beispiel: Erfahrungsverarmung, Pornofizierung.

Zunächst eine Beanstandung: Suboptimal ist an dieser Publikation – genau gesagt: an der deutschen Übersetzung – der Titel. Im englischen Original lautet er: „The Shallows – What the Internet Is Doing to Our Brains“. Eine hölzerne, jedoch zutreffende deutsche Übertragung wäre: „Die Untiefen – Was das Internet mit unserem Gehirn anstellt“. Der vom Verlag für die Übersetzung gewählte Titel ist irreführend.

Was das Internet mit unserem Gehirn anstellt ..., darum geht es auf den 380 Seiten unter verschiedenen Aspekten. Der Autor ist IT-Experte und erfahrener Nutzer der digitalen Dienste, und zwar einer derjenigen, die irgendwann am eigenen Leibe merken, dass die Medien – nutzt man sie so enthusiastisch und intensiv, wie sich das heute nun mal anbietet – auch etwas mit einem machen: Die Mediennutzung verändert den Nutzer. „Ich vermisste mein altes Gehirn ...“ (S. 38). Der Autor spürt diesen Veränderungen nach:

1) In erster Linie geht es, wie der Titel schon sagt, um das Gehirn des Users. Eine entscheidende Richtung, die die Überlegungen in diesem Buch nehmen, ist die neurowissenschaftliche. Man bekommt eine relativ facettenreiche Übersicht über jüngere einschlägige Befunde aus der Kognitionswissenschaft, der Neurobiologie und Neuropsychologie; Carr führt dazu eine breite Palette von Arbeiten an, darunter so bekannte wie Eric Kandels „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ oder Joseph LeDoux’ „Das Netz der Persönlichkeit“. Sowohl Carr als auch den von ihm zitierten Wissenschaftlern geht es dabei insbesondere um das Phänomen der Neuroplastizität – also darum, dass jede Erfahrung, die wir machen, unser Nervensystem modifiziert: Mit jedem Sinneseindruck, jeder motorischen Handlung, jeder Emotion, jedem Gedanken, jeder Assoziation „werden unsere neuronalen Netze neu überarbeitet“ (S. 60). Es sind Befunde, die insbesondere auf eine Kernthese – die Carr mit zahlreichen Medienpsychologen teilt – hinauslaufen: Die Neuroplastizität hat erhebliche Konsequenzen, was die Wechselwirkung zwischen Mensch und Medien betrifft, und insbesondere die zunehmende Präsenz von „Internet & Co.“ kann einhergehen mit teils gravierenden Veränderungen des menschlichen Denkens und Empfindens; auf der Verlustseite sind möglicherweise zu verbuchen: Konzentrationsfähigkeit, Lernfähigkeit, Kreativität, Schärfe des Denkens, Tiefe des Empfindens.

2) Als mediales Objekt steht insbesondere im Mittelpunkt der Überlegungen: die Sprache, genau gesagt, speziell die Schriftsprache – das Lesen und das Schreiben. Erzählt wird „eine kurze Geschichte der Schriftsprache“: über die Entwicklungen von der oralen Sprache zum Schriftmedium, über die mittelalterlichen Handschriften, über Gutenberg und Druckerpresse bis hin zum Hypertext und E-Book. Leitfrage: Was haben Schriftsprache und Buch – das Lesen und das Schreiben – uns gebracht beziehungsweise mit uns gemacht? Im Prinzip folgen Carrs Ausführungen hier Maryanne Wolf („Das lesende Gehirn. Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt“). Die Kernthese lautet: Die Schriftsprache und konkret in erster Linie das Buch waren einzigartige Instrumente – Motor und Medium – für die Entwicklung des menschlichen Potentials, auf kognitiver und auch auf emotionaler Ebene.

3) Schließlich führt Carrs medienkritischer Weg zu aktuellen Entwicklungen, zum vernetzten Computer: „universelles Medium und ungeheuer vielseitige Erweiterung unserer Sinne, unserer Kognition und unseres Gedächtnisses“ (S. 329). Was ihn hier interessiert, ist insbesondere die enge Verbindung zwischen Medium und Mensch, zwischen Technik und Anwender, und was ihm bei dieser Sichtung und Analyse gut gelingt, ist das Aufzeigen der ungeheuren Attraktivität, des Verführungspotentials von Facebook, Google & Co. Carr legt dar: Es hat seine Gründe, dass das Surfen, das Googeln usw. so viel Spaß machen, dass viele von uns so gerne sehr viel Zeit online verbringen. Es gibt – und auch hierzu führt er medien- und neuropsychologische Befunde ­an –, eine Vielzahl „Passungen“ zwischen Mensch und Internet, die dazu beitragen, dass „unser Nervensystem so leicht mit unserem Computer ‚verschmilzt’“ (S. 330). Konkretes Beispiel aus der aktuellen Online-Welt, an dem Carr seine medientheoretischen Beobachtungen, Diagnosen und Überlegungen anschaulich macht, ist Google. Eine gute Wahl, denn Google ist wohl derzeit der paradigmatische Fall schlechthin; an diesem Hauptakteur und seinen heterogenen Aktionsfeldern lassen sich entscheidende informationstechnologische Mechanismen und Wirkweisen verdeutlichen. In erster Linie zeigt Carr an Google exemplarisch die Vielfalt an Schnittstellen auf, an denen sich Mensch und Programm wechselseitig beeinflussen – und das, aus Carrs Sicht, aller Voraussicht nach nicht unbedingt zum Vorteil des Menschen. „Wir programmieren unsere Computer, und danach programmieren sie uns“ (S. 331). 

Zusammengefasst: Was das Buch inhaltlich kennzeichnet, sind die skizzierten Perspektiven: der neuropsychologische Rundblick, die medienhistorische Rückschau, schließlich der Blick auf aktuelle Online-Entwicklungen. Um die inhaltlichen Erwartungen noch einmal klar zu bahnen: Es geht in diesem Buch insbesondere um den Text, um Lesen und Schreiben. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich; Internet & Co. sind ja auch für andere Formen des Zugangs zur Welt von entscheidender Bedeutung: beispielsweise für den spielerischen Zugang im Sinne des „homo ludens“. Für viele Anwender ist Spielen – im Vergleich zum Lesen oder Schreiben – die sehr viel bedeutsamere Mediennutzung. 

Zum Stil: Das Buch ist gut lesbar; es ist geschrieben in einem angenehmen Ton – engagiert, aber ohne erhobenen Zeigefinger –, und bei aller Informationsfülle unterhaltsam. Es ist stilistisch ein gelungenes Sachbuch im amerikanischen „Info- und Edutainment“-Sinn.

Fazit: Zum Schlüsselthema „Wechselwirkung zwischen ‚Internet & Co.’ und Mensch“ mehren sich ja, wie eingangs gesagt, derzeit die Publikationen. Carrs Buch stellt eine gewinnbringende medienpsychologische Lektüre dar, wenn man dazu auf unterhaltsame Art seriös erstinformiert werden möchte, mit inhaltlichem Fokus auf einen spezifischen „Kanal“: den Text.


 
 
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